Die Internationale
Worte haben sich in mein Ohr geschlichen. Dazu eine Melodie und ich ertappe mich überrascht dabei, dass ich sie leise vor mich hin summe. "Wacht auf, Verdammte dieser Erde, die stets man noch zum Hungern zwingt."
Der Text der Hymne entstand nach der blutigen Niederschlagung der Pariser Kommune 1871 – in diesem Jahr wird der Aufstand der Pariser Arbeiter seinen 150. Jahrestag feiern. Damals ging es um das Elend der werktätigen Masse. Armut, Militarismus, horrende Kriegsausgaben ließen das Leben der ohnehin von Ausbeutung und Mangel gezeichneten Arbeiterschaft nach dem Ende des für Frankreich (und ethisch auch für Deutschland) verlorenen Deutsch-Französischen Krieges eskalieren. Der Lohn reichte weder zum Leben noch zum Sterben. Das Aufbegehren der Arbeiter war ein Schrei nach der Befriedigung der grundlegendsten Lebensbedürfnisse wie sie Marx in seinem Manuskript „Deutsche Ideologie“ 1845-46 beschreibt: Zum Leben ... gehört vor allem Essen und Trinken, Wohnung, Kleidung und noch einiges Andere. Diese Forderung nach einigem Anderen war neben der gerechten Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums ein wesentlicher Bestandteil jener Kommune. Es ging um Demokratie in einem Rätesystem. Es ging um eine neue Form sozialen Zusammenlebens, dem Sozialismus, und es ging um die Emanzipation der Frauen, ihrer Forderung nach gleichem Recht, gleichem Lohn, nach Anerkennung.
Wacht auf, Verdammte dieser Erde! Ich ahne, dass schon 1871 mehr gemeint war, als die Aufforderung zu einem revolutionären Kampf, der immer blutige Opfer fordert und selten die Veränderungen bringt, deren Visionen die Triebkraft der Revolutionäre sind. Am Ende einer gewaltvollen Revolution sind die Täter Opfer und die Opfer Täter. Aber zum Glück haben wir uns weiterentwickelt. Und ich übersetze mir den Ruf so: Wacht auf aus dem Schlaf eines Jahrtausendelangen Kreislauf von Macht und Ohnmacht. Seid keine Opfer, die stets man noch zum Hungern zwingt. Hunger ist nicht nur ein knurrender Magen, es ist auch das Hungern des Geistes und der Seele … der Hunger nach seelischer Nahrung und das Recht darauf, das wie Glut im Kraterherde nun mit Macht zum Durchbruch dringt! Wie übersetze ich mir seelische Nahrung? Ich lese weiter in der Hymne und bleibe an dem Satz hängen: Ein Nichts zu sein, tragt es nicht länger. Alles zu werden, strömt zu Hauf! Meine Seele sehnt sich nach einer gleichgesinnten Gemeinschaft freier Menschen, die bewusst und selbstbestimmt an einer Welt in Frieden bauen. Ich wünsche mir Arbeitspartnerschaften über die Grenzen einer Nation hinaus, in denen jeder nach seinem Talent und seinen Fähigkeiten am gemeinsamen Projekt schafft, in der alles Geltung hat, was gedacht und gesagt wird. Wo es kein ABER gibt, sondern immer nur ein UND. Die Addition unserer Talente! Es rettet uns kein höh’res Wesen, kein Gott, kein Kaiser, noch Tribun. Uns aus dem Elend zu erlösen, können wir nur selber tun. Die Melodie komponierte 1888 der Belgier Pierre Degeyter, Leiter eines Arbeitergesangsvereins in Lille.
Mit dieser bezaubernden Stadt im Norden Frankreichs verbindet mich eine besondere Erfahrung. 2018 war ich Mitglied einer Jury für die Entwicklung neuer Drehbücher, unter dem Dach des französischen Autoren- und Komponistenverbandes (SACD) und des deutsch-französischen Gemeinschaftssenders Arte. Bei der Preisverleihung trafen sich die deutschen und französischen Autorinnen und Autoren. Wir debattierten, redeten über unsere Arbeit und wie wir mit unseren Geschichten die Herzen unsere Zuschauer erreichen können. Erzählen Sie immer über sich und ihr Land, wandte sich ein französischer Regiekollege an mich. Sprechen Sie über ihre ureigenen Erfahrungen in dieser Welt. Was Sie als Deutsche denken, interessiert mich als Franzose. So einfach und so wahr. Völker hört die Signale!, summt es aus meinem Herzen.